Zu unserem 30-jährigen Geburtstag ist in der Tageszeitung Neues Deutschland vom heutigen 10. Dezember ein Artikel über uns und unsere Arbeit erschienen. Wir bedanken uns sehr herzlich für die Mühe und den Aufwand. Und wir sehen später am Abend im Mehringhof.
Eine Institution der linken Szene Berlins feiert runden Geburtstag
Von Sarah Liebigt und Jörg Meyer 10.12.2010
Am Abend nach der Schlacht am Fraenkelufer wurde der Berliner Ermittlungsausschuss gegründet. Heute feiert er seinen 30. Geburtstag im Kreuzberger Mehringhof.
Fernes Verkehrsrauschen dringt durchs angelehnte Fenster, als das Telefon wieder klingelt. Aus dem Hörer dröhnt Lärm, eine aufgeregte Stimme berichtet von einer Festnahme, rattert Namen und eine Adresse herunter, berichtet hektisch, wie der Betroffene von mehreren Polizeibeamten abgeführt wurde. Die junge Frau, die den Anruf in einem Berliner Büro entgegen genommen hat, beruhigt den Anrufer zunächst, bittet ihn, sich eine ruhigere Ecke zu suchen. Schließlich notiert sie sich die Daten und den Zeitpunkt der Festnahme.
Während der Walpurgisnacht, und am 1. Mai, als es in manchen Jahren hunderte Festnahmen gab, oder bei einer der vielen Demonstrationen, die in Berlin stattfinden, sind solche Anrufe Routine: Der Ermittlungsausschuss (EA) betreut und berät seit 30 Jahren vorrangig Angehörige der linken Szene vor, während und nach Demonstrationen. »Auf Großevents wie der Walpurgisnacht und dem 1. Mai ist das Telefon im EA-Büro mitunter drei Tage am Stück besetzt«, sagt Beate Beckmann, Sprecherin des Berliner EA. Unabhängig davon ist der Anrufbeantworter immer geschaltet und wird regelmäßig abgehört. Je nachdem, wie schnell wie viele Anrufe eingehen, wird zunächst nach Dringlichkeit sortiert. Der EA gibt die Daten an Anwälte weiter, die sie benötigen, um Kontakt zum Gefangenen aufnehmen zu können. Je nach Verfahren und Vorwurf können Menschen in der Gefangenensammelstelle betreut oder vor den Haftrichter begleitet werden.
Schon lange eine Institution
Undine Weyers und Trixi sitzen im »Clash«, einer traditionsreichen linken Kneipe im Mehringhof. Die Luft ist verraucht, Stimmengewirr und Punkrock bestimmen die Atmosphäre. Wenn hier abends ein Konzert ist, vibriert im EA-Büro über der Kneipe der Fußboden. »Da hinten stand früher der große runde Tisch, der jetzt hinter dir am Fenster steht«, erzählt Weyers und zeigt mit dem Finger durch den weitläufigen Raum. An jenem Tisch wurde nach der Schlacht am Fraenkelufer am 12. Dezember 1980 der Berliner EA gegründet. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Besetzern und Polizei wurden über 100 Menschen festgenommen, »fast 30 Leute waren auf einen Schlag für längere Zeit im Knast«, erinnert sich Undine Weyers. Anwälte und Angehörige der Autonomen Szene seien sich einig gewesen, dass die Arbeit koordiniert werden muss, damit niemand in den Mühlen der Repression »verloren geht«. Das Büro im Mehringhof wurde gefunden, ein Telefon eingerichtet, Erreichbarkeit war wichtig. Die Gruppe entwickelte bald die Struktur, nach der heute noch gearbeitet wird. Nicht wenige EA-Ehemalige wurden selber JuristInnen, so auch die Strafverteidigerin Undine Weyers.
Nach dem Ende der ersten Welle von Besetzungen in Berlin wurde es auch im EA kurzzeitig ruhiger, die Zahl der Festnahmen und Prozesse nahm ab. Als bei einer Demo 1985 Günther Sare in Frankfurt am Main von einem Wasserwerfer überrollt wurde und starb, kam es bundesweit zu spontanen Demonstrationen und heftigen Kämpfen mit der Polizei. »Und der EA war nicht zu erreichen«, erinnert sich Trixi, die dann mit einer Gruppe von jüngeren Aktiven zum EA stieß. »So läuft das bis heute«, erzählt sie: In bewegungsreichen Zeiten ist auch für den EA viel zu tun. »Wenn eine neue Gruppe den EA bildet, werden die Neuen von den Alten angelernt, Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die Gruppen bleiben lange dabei«, sagt Trixi – bei ihr waren es 17 Jahre.
»Der Telefondienst während Demos ist nur ein Teil der EA-Arbeit«, weiß Beate Beckmann. Das Büro ist auch Anlaufstelle für Ratsuchende oder Leute, die eine Demo organisieren und den EA um Unterstützung bitten wollen. Wer Post vom Staat bekam, hat Fragen. »Ich hab‘ an einer Sitzblockade teilgenommen und jetzt eine Vorladung bekommen, muss ich da hin?« In der Sprechstunde gibt es wöchentlich die Antworten auf solche Fragen und bei Bedarf auch die Weitervermittlung an einen Anwalt. Außerdem unterstützt der EA Gerichtsverfahren finanziell nach festen Kriterien.
»Großes Hallo gibt es im Büro, wenn die Polizei selbst den EA anruft. Das kommt allerdings selten vor«, sagt Beate Beckmann. In dem Fall haben wir dann wie gewünscht einen Kontakt zwischen Rechtsanwalt und Inhaftiertem hergestellt.
Kennen Sie die Nummer 69 22 22 2?
Der Berliner EA war einer der ersten. Nur die Gruppe in Hamburg ist noch älter. In Marburg feiert der EA im Oktober 2011 Geburtstag. Ermittlungsausschüsse gibt es in vielen Städten Deutschlands. Sie sind ein wichtiger Teil linker Infrastruktur – vergleichbar etwa mit der Roten Hilfe. Auch sie finanzieren sich über Spenden, die Mitarbeit ist ehrenamtlich. Aber ein EA ist kein Verein, kennt keine Satzung und keine feste Mitgliedschaft. »Wenn früher das Geld knapp wurde«, erzählt Trixi, »haben wir zum Beispiel in der ›taz‹ einen Spendenaufruf geschaltet.« Es sei faszinierend, woher dann überall das Geld kam. »Plastiktütenweise« hätten Menschen gespendet. Das ist bis heute so. Politisch aktive Menschen in Berlin kennen den EA und die Telefonnummer 69 22 22 2 – sie ist seit 1981 die gleiche.
»Es ist aber schon anders als früher«, sagt Trixi. Die Angehörigen der autonomen Bewegung der 80er Jahre hätten ein klareres Verhältnis zur Repression gehabt, es gab mehr Auseinandersetzung, und der EA war mit Veranstaltungen und Schulungen aktiver. »Wir haben noch im Zeitalter der Telefonzelle gelebt«, sagt Trixi. Mit dem Aufkommen der Mobiltelefone habe sich auch die EA-Arbeit geändert. Wenn früher jemand Stunden nach der Demo noch immer nicht wieder aufgetaucht war, wurde angerufen. Heute rufen die Menschen noch von der Demo aus während der Festnahme an.
Heute Abend feiert der EA im »Clash« Geburtstag. Dann werden vier Generationen Linke sich treffen, trinken und tanzen, alte Geschichten erzählen und die neuesten diskutieren. Im dunklen Büro darüber leuchtet einsam ein kleines rotes Licht. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet.