§129 – Das Ende einer antifaschistischen Fahrradtour

Hess-Nachspiel 2017: §129
Am 19. August 2017 wollten ca. 40 Personen per Fahrrad zu den Protesten
gegen den Neonaziaufmarsch in Spandau fahren. Die Fahrt endete nach ein
paar hundert Metern in einem Polizeikessel. Erster Vorwurf: Verstoß
gegen das Versammlungsgesetz.
Später hieß es, ein AfD-Stand am Wegesrand sei umgekippt worden – es
habe Auseinandersetzungen gegeben. Zweiter Vorwurf: Landfriedensbruch.
Die Personalien wurden aufgenommen, Kleidung durchsucht, Antifa-Sticker
und Kartenmaterial beschlagnahmt und Fotografien angefertigt. Danach
konnte die Fahrt nach Spandau fortgesetzt werden, wo die Proteste gegen
den Rudolf-Heß-Marsch im vollem Gange waren. Das Amtsgericht Tiergarten
befand im April 2019 Teile der Polizeimaßnahme als rechtswidrig.
Fast zwei Jahre später erfuhren einige der Betroffenen über ein
Auskunftsersuchen beim Bundeszentralregister, dass ein dritter Vorwurf
wegen dieser Fahrradtour im Raum steht: Bildung einer kriminellen
Vereinigung in Tateinheit mit besonders schwerem Landfriedensbruch.
Bis heute ist keines der Verfahren eingestellt, nur wenige wissen von
den Verfahren gegen sie.

Aufklärungsversuche
Mittlerweile ist bekannt, dass sich eine LKA-Beamtin am Treffpunkt
Ernst-Reuter-Platz einfand, sich als Antifaschistin ausgab und sich
Kartenmaterial aushändigen ließ um die Route nach Spandau an die
Einsatzzentrale durchzugeben. Ein weiteres Polizeiteam war im Umfeld
ebenfalls zivil mit dem Auto unterwegs. Am Theodor-Heuss-Platz hatten
sich mehrere uniformierte Einheiten in ihren Mannschaftswagen postiert.
Es war nie geplant die Fahrradtour nach Spandau unbehelligt
durchzulassen. Bekannt geworden ist auch, dass der AfD-Bezirksverband
Charlottenburg einen Stand an der Otto-Suhr-Allee aufgebaut hatte.
Dieser wurde ebenfalls von einem zivil gekleideten Beamten beschützt.
Fakt ist, dass es eine Auseinandersetzung zwischen einer handvoll
Fahrradfahrer*innen und AfDlern an dem Stand gegeben hat, infolge dessen
der Stand umgekippt war und Flyer auf dem Boden lagen. Ein
Zivil-Polizist gab an, einen Mann geschlagen zu haben, der versucht
haben soll, ihn beim Filmen zu hindern. Ein AfD-Standbetreuer gab zu
Protokoll ebenfalls Menschen geschlagen und im Schwitzkasten gehabt zu
haben. Das ganze dauerte nicht länger als eine Minute. Nachdem sich der
Staub verzogen hatte, baute die AfD den Stand wieder auf.
Alle Radfahrer*innen, die sich mutmaßlich zu dieser Zeit auf diesem
Teilstück der Otto-Suhr-Allee befanden, mussten kurze Zeit später das
polizeiliche Prozedere aus Kontrolle, Fotografieren usw. über sich
ergehen lassen. Ein Fahrradfahrer wurde gewalttätig durch Zivil-Beamte
vom Rad geholt und erlitt Verletzungen.

Politische Einordnung
Berlins Innensenator Geisel (SPD) hatte vor dem Neonaziaufmarsch der
Öffentlichkeit mitgeteilt, dass auch für Nazis die Meinungsfreiheit
gelte und der Senat den Rudolf-Heß-Marsch deshalb nicht verbieten werde.
Berlin ist damit der einzige Ort an dem ein Gedenken an den
Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß nach 12jähriger Pause wieder möglich
gemacht wurde. Überall sonst wäre der Aufmarsch untersagt worden. Dafür
hatten die Proteste der 90er und 2000er im bayerischen Wunsiedel und die
Bestätigung des Verbots durch das Bundesverfassungsgericht 2009 gesorgt.
Der rot-rot-grüne Senat wollte dieses Großevent der NS-Verherrlichung
aus Gründen eines falschen Liberalismus durchsetzen. Faschismus ist
keine Meinung – sondern ein Verbrechen. Weder die Gewalttätigkeit der
Teilnehmenden, oder die offensichtliche Verwendung von Nazi-Symbolen und
die Gutheißung der Nazi-Verbrechen änderten an diesem Tag etwas an dem
Durchsetzungswillen der Polizei. Das hatte zur Folge, dass
Antifaschismus im Gegenzug zwar toleriert wurde (der Aufmarsch musste
aufgrund von Blockaden umgeleitet werden), sich aber in bestimmten
Bahnen zu bewegen hatte. Alles, was von dieser Doktrin abwich, wurde mit
Polizeigewalt und Strafverfahren überzogen. 1200 Beamte waren im
Einsatz. Es wurden doppelt soviele Verfahren gegen Antifaschist*innen
eingeleitet, wie gegen Neonazis. Das Vorgehen gegen die Fahrradanreise
nach Spandau ist Ausdruck dieser politischen Strategie.

Das Stigma: PMK Links
Nach der Fahrradtour hat das Berliner LKA und die politische
Staatsanwaltschaft dafür gesorgt, dass alle im polizeilichen
Informationssystem des Bundeskriminalamts mit dem Vermerk “Politisch
Motivierte Kriminalität – links” geführt werden. Dieser Vermerk
erscheint immer, wenn Personalien von Aktivist*innen irgendwo
kontrolliert werden. Und auch der Grund wird angegeben: §129 Bildung
einer kriminellen Vereinigung.
Dabei kann so ein laufendes Strafverfahren massive Auswirkungen auf die
Lebensführung haben. Einigen wurde in den letzten Monaten der Zutritt zu
Behörden verwehrt. Eine Person wollte ehrenamtlich arbeiten und wurde
aufgrund des Eintrags abgelehnt. Mehrere wollten in den Urlaub und
wurden am Flughafen länger festgehalten. Was Betroffenen in Zukunft
verwehrt und was genehmigt wird, wohin sie reisen und wo sie zu bleiben
haben, hat nichts mehr mit dem eigentlichen Vorwurf zu tun, sondern
orientiert sich an den persönlichen Einschätzungen der jeweiligen
Beamten, die darüber zu befinden haben, wie so ein Vorwurf aktuell
einzuschätzen ist. Die Berliner Sicherheitsbehörden haben deshalb tief
in die Kiste der besonders schweren Straftaten gegriffen, obwohl die
Einstellung der Verfahren absehbar ist. Doch die Verfahren werden in der
Schwebe gehalten, um Aktivist*innen so lang wie möglich mit diesem
Stigma zu nötigen. Das sorgt für Unsicherheit und schafft ein Klima in
dem sich Antifaschist*innen zweimal überlegen, ob sie sich an Protesten
gegen Naziaufmärsche beteiligen und mögliche Kriminalisierungen in Kauf
nehmen.

Wir haben uns dennoch letztes Jahr an den Protesten gegen den
Rudolf-Heß-Marsch in Friedrichshain beteiligt und werden es uns auch
nicht nehmen lassen, dieses Jahr wieder auf der Straße zu sein. Denn
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.


https://berlingegenrechts.de/2019/07/30/129-das-ende-einer-antifaschistischen-fahrradtour/